Nur ein Augenblick
Das Endspiel der Fußball-WM war seit zwei Stunden Geschichte. Die Italiener hatten Deutschland haushoch besiegt.
Es war der aufregende Abschlussabend unserer Ferienfreizeit in Südtirol. Knapp vierzig Teenager und sechs Betreuer waren nach einem dreiwöchigen, erlebnisreichen Sommeraufenthalt nun wieder auf der Heimreise.
Unser Bus zwängte sich durch ein kleines Dorf im Südtiroler Nirgendwo, in dessen Gassen italienische Fans ausdauernd und lautstark ihren Triumph feierten.
Eine unaufhaltsame Müdigkeit drängelte sich zwischen die Sitzreihen und ließ langsam Ruhe einkehren. Der Kopf meiner Freundin Anne war auf meine Schulter gerutscht, so dass ich seit einer Stunde in einer unbequemen Sitzhaltung verharrte, um sie nicht zu wecken.
Inzwischen hatten wir die Autobahn erreicht. Die Scheinwerfer der Autos flackerten monoton am Busfenster vorbei. Die Fahrt nahm überhaupt kein Ende. Es war still geworden. Einige schnarchten leise vor sich hin. Nur die Zwillinge in der hintersten Reihe wurden nicht müde, sich pausenlos Erlebnisse ins Ohr zu flüstern.
Ich schloss die Augen und träumte mich weit weg.
In meine Gedanken schlichen sich immer wieder ein paar lächelnde braune Augen.
Sie gehörten einem der sechs Betreuer, der mindestens zehn Jahre zu alt war, um mich überhaupt zu bemerken. Doch in diesen drei Wochen war er für mich das interessanteste, liebenswerteste Wesen, das mir bisher begegnet war.
Er saß nur sechs Reihen weiter vorne im Bus und war zu allen immer gleich freundlich.
Seufzend wechselte ich nun doch die Sitzposition. Konnte ich mich nicht in einen Gleichaltrigen aus der Parallelklasse verlieben? Es war zum Verrücktwerden. Die anderen Mädchen hatten es spielend geschafft, seine Aufmerksamkeit zu erlangen, um dann kühn ein paar Flirtversuche zu starten.
Drei Uhr mitten in der Nacht
Gerädert sah ich aus dem Fenster, als der Bus langsamer wurde und schnaufend auf einen Parkplatz abbog.
In die Stille hinein schnarrte durch das Mikrofon die Stimme des Busfahrers, als er eine kleine Pause ankündigte. Ich beschloss, mir ein wenig die Beine zu vertreten und stieg aus der hinteren Bustür aus. Unschlüssig blieb ich stehen. Scheinbar war ich die Einzige, die Lust auf frische Luft hatte. Ich gähnte und reckte mich.
Die vordere Bustür glitt zischend auf und ich sah automatisch in diese Richtung.
Jemand stieg aus, sah sich kurz um und kam langsam auf mich zu. Die braunen Augen und das liebevolle Lächeln standen mir unverhofft gegenüber. Plötzlich lag eine knisternde Spannung in der Luft. Ich lächelte unsicher, unfähig irgendetwas zu sagen.
Er strich mir zärtlich über das Haar. Unsere Blicke begegneten sich, bevor er mich für einen Moment in den Arm nahm.
Zitternd stand ich in der kalten Nachtluft. Die monotonen Geräusche der vorbeirasenden Autos verschwanden und ich hörte plötzlich die Grillen zirpen.
Als er sich von mir löste, sah er mir sanft in die Augen und seine Lippen berührten für einen kurzen, weichen Kuss meinen Mund.
Seine warme Hand strich langsam über meine Wange, bevor er seinen Weg fortsetzte.
Aufgewühlt und ungläubig, und mit der Gewissheit, ihn nach dieser Fahrt nie wieder zu begegnen, blickte ich ihm hinterher.
Ein Traum? Nein, das war gerade wirklich passiert! Und es war mir passiert. Manchmal macht das Schicksal Komplimente in Form von überraschenden Momenten.
Meine Gedanken schlugen Purzelbäume und ich war wieder hellwach. Berauscht und glücklich vor mich hin lächelnd kehrte ich zu meinem Platz im Bus zurück.
„War draußen was los?“, fragte mich meine verschlafene Freundin.
„Nee, nee, alles ganz ruhig und … schön …!“, antwortete ich.
„Unendlich schön und unglaublich betörend“, fügte ich in Gedanken hinzu.
Der Bus setzte seinen Weg durch die Nacht fort. Die Leuchtpfosten und Scheinwerfer entwickelten sich zu einem Feuerwerk und das Brummen des Motors glich einer lieblichen Melodie.
Die Gedanken an diesen flüchtigen Augenblick trugen mich durch die Nacht nach Hause.