Meine Oma und ihre Küche – eine Erinnerung!

Meine Oma wurde von allen nur „Lenchen“ genannt und wir Enkelkinder nannten sie „Oma Unten“, weil sie aus unserer Perspektive eben unten wohnte, im Erdgeschoss.
„Wir gehen mal eben nach unten zu Oma“ riefen wir unseren Eltern zu, wenn uns langweilig war, der Familienfrieden schief hing oder wir Lust auf etwas Süßes hatten. 

„Lenchen“ klingt klein und zart, ist aber weit gefehlt: Mit ihrer Statur von ca. 1,80 m und einer Schuhgröße von mindestens 41 überragte sie die meisten anderen Frauen.
Ich hatte immer das Gefühl, sie stand unerschütterlich mitten im Leben, auch wenn ihr Gang an einen mittelschweren Seegang erinnerte und die X-Beine sich wegen eines Hüftleidens im Laufe der Jahre ausprägten.

Ihre kräftigen Hände haben damals Steine für das Eigenheim gegossen, die breite Blumen-Fensterbank für das Wohnzimmer gefertigt und später unermüdlich Garten- und Hausarbeit erledigt. Das sah man auch dem goldenen Ehering an, der verbogen und wellig war und den sie niemals abnahm.

Ihr Standardoutfit bestand aus Röcken mit Pullovern. Darüber trug sie meistens einen ärmellosen Kittel, den man mit seinen schrillen Farben und Mustern schon von Weitem sehen konnte. 

So, wie Oma Lenchen die Dinge anpackte, war man bei ihr als Enkelkind immer bestens aufgehoben. Gefühlt gehörte sie für mich zum Inventar ihrer Wohnküche, dem meistgenutzten Raum der Wohnung. 

Der Küchenboden bestand aus Linoleum, das stets so glänzte, als könnte man Schlittschuh darauf laufen. Er wurde regelmäßig mit einer Bohnerwachsmischung behandelt, die Oma mit einem schwergewichtigen Blocker verteilte. Würde mir dieser spezielle Geruch heute begegnen, wäre ich gedanklich sofort wieder das Kind, das um den Küchentisch rannte und fangen spielte. 

Mitten im Raum, auf einem Teppich, stand er, der große Esstisch, dessen abgegriffene, speckige Holzplatte von einer weißen Leinentischdecke mit blauen Stickereien verschönert wurde.

Bei Geburtstagen oder Kaffeekränzchen saßen die Besucher dicht gedrängt an der festlich gedeckten Tafel, und das filigrane Sammelgeschirr wurde für diese besonderen Anlässe extra aus dem Wohnzimmerschrank in die Küche gebracht.

Frankfurter Kranz mit einer besonders dicken Schicht Buttercreme versehen, Tortenboden mit Obst und ein Rührkuchen wurden aufgetischt.

Eine bunte Gästeschar, die sich immer etwas zu erzählen hatte, füllte den Raum mit Leben. 

Zu späterer Stunde wurden neben den Schnittchen mit Gurke und Ei, auch Bier, Wein und Schnäpse serviert. Es durfte geraucht werden und das Etablissement kam einer Kneipe sehr nah.

Die rechte Wand der Küche war der Stammplatz eines durchgesessenen Sofas mit unzähligen Kissen und Nackenrollen, das Oma jeden Mittag für ein Schläfen nutzte.

Die selbstgehäkelten Kissenbezüge verrieten nach kurzer Zeit des Liegens, durch ein Muster auf der Wange, jede kleine Auszeit. 

Dazu dudelte das alte Radio in der Ecke. Es erreichte die Größe eines Röhrenfernsehers und das viel zu kleine Schränkchen, auf dem es thronte, schien unter seinem Gewicht leise zu ächzen.
Ein glänzendes Holzdekor, riesige Lautsprecher und handliche Drehknöpfe für Lautstärke und Sendersuche, ließen es wie ein Relikt aus einer anderen Zeit erscheinen. Könnte es reden, hätte es sicher interessante Geschichten zu erzählen. Auf der Suche nach Musik knisterte und rauschte es verheißungsvoll, aber ein gut verständlicher Sender war meist unauffindbar. 

Der alles beherrschende Küchenschrank hatte Charme. Ihn schmückten Fenster mit Gardinen und es gab Klappfächer, in denen wir Enkelkinder immer spannende Dinge finden konnten. Die oberen Fächer besaßen schnörkelige Schlüssel, von denen nur noch einer vorhanden war. Wenn man die Weingläser brauchte, musste also der Schlüssel von rechts nach links wechseln. 

Oma konnte alles gebrauchen und es wurde nichts einfach so entsorgt. 

In den Klappfächern, die genau die richtige Höhe für mein damaliges vier Jahre altes Ich hatten, befanden sich zum Beispiel verbeulte, bunte Blechdosen mit Knöpfen aller


Art, die wieder und wieder von uns Kindern sortiert und angesehen wurden oder einfach beim Schütteln wunderbar viel Lärm machten.

Die linke Zimmerecke schmückte eine uralte, schwarze Nähmaschine, die für kleinere Änderungen noch immer treu ihrer Arbeit nachkam. Betrieben wurde sie durch ein eisernes, schwarzes Fuß-Pedal, das hin und her bewegt werden musste. Es war strengstens verboten in diese Ecke zu krabbeln, denn die Gefahr, sich die Finger am Pedal zu klemmen, war groß. Das hielt uns natürlich nicht davon ab, es zumindest immer wieder zu versuchen. 

Der Bereich vor dem Fenster war Oma Lenchens Lieblingsplatz!

Auf dem kleinen, runden Tisch befand sich ein Korb mit Strickutensilien. Meistens beinhaltete er Socken, die für irgendwelche Familienmitglieder gestrickt oder gestopft wurden. Zwei Holzstühle, auf denen sich bunte Sitzkissen stapelten und die mit ihren geschwungenen Armlehnen das Aufstehen erleichterten, umrahmten das Tischchen.

Alle Besucher: innen, die mal kurz eine Verschnaufpause vom Alltag brauchten oder einfach auf ein Schwätzchen vorbeikamen, saßen mit Oma dort am Fenster. 

Und wenn es dann langsam dämmerte, das Tagewerk vollbracht oder Oma der Meinung war, es sei jetzt angemessen, bot sie jedem, der sich gerade in Reichweite befand, einen kleinen Cognac oder ein Gläschen Eckes Edelkirsch an.  
Der Blick nach draußen richtete sich auf ein zwei Meter breites Rasenstück und eine für damalige Verhältnisse stark befahrene Straße mit Bürgersteig.

Oma Lenchen saß oft am Fenster und schälte Kartoffeln, strippelte Johannisbeeren ab, entsteinte Pflaumen, stopfte Strümpfe, tröstete heulende Enkelkinder und spielte „Hoppe Reiter“ mit ihnen.

Als ich klein war, zählten wir die Autos, die vorüberbrausten (ein Gelbes, ein Rotes, ein Blaues …). Oma strickte währenddessen an einer Socke, die öfter auch mal aufgeribbelt werden musste, weil die bunten Streifen nicht übereinstimmten, und beaufsichtigte nebenbei das Mittagessen, das dampfend vor sich hin köchelte.
Im Sommer stand dann der riesige Entsafter auf dem Herd. Eine gewagte Konstruktion, denn vor dem Herd befand sich ein Stuhl mit einem Topf, in den der Johannisbeersaft durch einen Schlauch langsam nach unten tropfte. Besser, man kam diesem ausgeklügelten Arrangement nicht zu nahe. 

Ein Highlight der Küche war die Speisekammer.
Neben der Spüle führte eine Tür in einen Raum mit einem kleinen Fenster.

Man konnte sich kaum darin drehen und er erinnerte eher an einen 3-Mann-Lift als an ein eigenständiges Zimmer. 

Neben dem Kühlschrank und einer kleinen Ablage bestand der Rest der Kammer aus selbst gezimmerten Regalen, die bis zur Decke reichten.
Dosen, Becher, Tütchen, Schüsseln, Töpfe und Pfannen stapelten sich dicht an dicht. 

So musste es im Tante-Emma-Laden riechen, wo die Waren noch lose in den Schubladen lagerten.

Es duftete nach einer Mischung aus Weihnachtsmarkt und Kirmes, nach Zimt, Anis, Rosinen, Orangen, getrocknetem Schinken, sauren Gurken und nach Maggi.
Maggi war sowieso in meiner Erinnerung „die Geheimwaffe“ meiner Oma. Alles, was man nur ansatzweise als herzhafte Speise bezeichnen konnte, wurde mit ein paar Spritzern Maggi verfeinert. Besonders die Suppen. Suppe ohne Maggi gab es schon mal gar nicht.

In einer großen, braunen Porzellanschüssel, die zum Leidwesen aller Enkelkinder ihren Platz auf einem der oberen Regale hatte, schlummerten die wahren Schätze der Kammer. Nussschokolade in großen Riegeln, After Eight, weiße und fliederfarbene Schokolinsen und Eiskonfekt waren die Standardausstattung. 
Angeblich verlangte mein jüngeres Ich leidenschaftlich gern nach After Eight. 

Omas Hausmannskost war immer lecker.
Ich erinnere mich an köstliche, selbst gemachte Reibekuchen mit Apfelmus, von denen wir Kinder nicht genug bekommen konnten, Graupensuppe (natürlich mit Unmengen von Maggi verfeinert) und dicke Brotscheiben mit viel Butter und selbst gemachtem Johannisbeergelee.



Selbst als Jugendliche besuchte ich Oma noch oft auf eine Stippvisite und wurde regelmäßig nach meinem Beziehungsstatus gefragt.
Eine Frage, die so auch nur Oma stellen durfte. 
Mit ihr diskutierte ich über Jungs und wer wohl der Richtige für mich sein könnte. 
Manchmal hatten wir eine Wellenlänge, aber meistens endete es damit, dass sie mir „einen Mann backen“ wollte, weil mir keiner gut genug war.

In vielen Situationen hatte meine Oma einen flotten Spruch auf Lager. 

„Kind ich kann nicht untergehen, Fett schwimmt oben“, rief sie mir zu, als wir im Spanienurlaub im Meer auf dem Rücken schwammen und in die Sonne blinzelten.

Im Laufe der Jahre hatte sie zunehmend Last mit Ihren Knochen und sollte bereits die zweite neue Hüfte erhalten.

Getreu nach dem Motto „Was muss, das muss!“ sah sie den Dingen entgegen. Guten Mutes vertraute sie auf die Ärzte: 
„Die finden in ihrem Ersatzteillager bestimmt das Richtige für so ein altes Wrack wie mich.“ 

Hauptsache, sie war danach wieder einsatzfähig und konnte rechtzeitig vor dem Winter den Garten umgraben.

Natürlich war meine Oma auch berufstätig.
Sie saß jeden Nachmittag nach dem Mittagsschläfchen bis zum Abend vor einer großen, schwarzen Schreibmaschine im Büro und trug klappernd endlose Zahlenreihen in riesige Bücher ein – die Buchhaltung für den Familienbetrieb.

Meine „Kindheit mit Oma“ duftete nach Bohnerwachs, frisch gekochter Marmelade, und Oma Lenchens aktuellem Mittagsessen.

Eine Zeit, die sich nach positiver, liebender Energie, „Schlechte Laune gibt es nicht!“ und „Aufgeben ist keine Option“ anfühlte!

Eine großartige Frau! Meine Oma!