Winifred Weihnachtsbaum

Eine kleine Weihnachtsgeschichte – inspiriert vom Weihnachtsbaum meiner Tochter!

Die kleine Winifred Weihnachtsbaum huschte auf den Bürgersteig, bevor die schwere Haustür krachend hinter ihr zufiel. 
Sie hatte ihr warmes, gemütliches Zuhause im 4. Stock des hübschen Altbaus überstürzt verlassen. Ihre Zweige wackelten aufgeregt und der Weg nach unten war mit einer feinen Spur Tannennadeln übersät. 

Vor etwa zwei Wochen hatte Vanessa, die Mieterin der kleinen 2-Zimmer-Wohnung, sie mühsam die vielen Stufen hinaufgeschleppt und direkt neben dem tannengrünen Lieblingssessel am Fenster platziert. Ein toller Platz mit Blick auf das gesamte Wohnzimmer und die Menschen, die hier zu Besuch waren. 

Noch am gleichen Abend wurden goldene Kugeln und eine warmweiße Lichterkette an ihr befestigt. Sie erstrahlte in einem wunderschönen, warmen Licht und fand ihr Outfit großartig.

Vanessa spielte fast jeden Abend auf ihrer Ukulele und Winifred genoss die besinnliche Vorweihnachtszeit. Manchmal wurde sie sogar von Besuchern bewundert. Sie lobten ihren Schmuck und den einzigartigen Tannenduft. Was hatte sie doch für ein Glück!
Doch kurz vor dem großen Fest wurde der fröhlich leuchtenden Winifred angst und bange. Bei einem Telefonat schnappte sie zufällig auf, dass Vanessa verreisen und sie über die Feiertage ganz allein Zuhause lassen würde. Sie fing an zu zittern, und die ersten langen Tannennadeln rieselten vor Schreck auf den Dielenboden.

Ein Heiligabend ganz ohne Gesellschaft? Einsam? Das durfte doch nicht sein. Winifred begann Pläne zu schmieden. Hier konnte sie nicht bleiben. Zum Glück hatte man ihr einen von diesen Weihnachtsbaumständern untergeschnallt. Er war aus Holz und es war nicht das neueste und somit schnellste und leichteste Modell, aber man konnte sich damit fortbewegen.
Jetzt stand sie im eisigen Winterwind und schaute aufgeregt die Straße hoch und runter. Es dämmerte bereits, und in den Fenstern gingen die ersten Lichter an.

Ihre Besitzerin war vor etwa zehn Minuten mit ihrem Koffer aufgebrochen und hatte etwas von Gleis 5 gemurmelt. Gut, dass sie den Weg zum Bahnhof noch im Kopf hatte, denn auf dem Bahnhofsvorplatz

stand der griesgrämige Weihnachtsbaumverkäufer, von dem Vanessa sie damals erlöst hatte.
Vielleicht konnte sie sie noch einholen.


„Kein Problem für eine Winifred Weihnachtsbaum“, versuchte Winifred sich Mut zu machen.

In diesem Moment fuhr langsam ein gelbes Cityfahrrad, auf dem hinten ein großer Einkaufskorb befestigt war, vorbei. Winifred nahm Anlauf und schwang mit den obersten Zweigen zuerst ihre kleine, kugelige Tannenstatur auf das Rad. Die Richtung stimmte. Vom Fahrtwind wurde ihre Lichterkette ordentlich durchgeschüttelt, und die Kugeln klimperten leise gegeneinander. 

Und tatsächlich: Wenige Minuten später parkten sie vor dem Bahnhof. Sie sprang vom Fahrrad und wackelte auf den Haupteingang zu. Ein großes Schild ließ sie innehalten: Achtung: 3G! 

Sie zeigte dem freundlichen Mitarbeiter ihren Ausweis: Gefällt, geschmückt und gesegnet. Er wünschte ihr ein frohes Weihnachtsfest und ließ sie passieren. Da sie keinen offensichtlichen Mund hatte, gab es für sie auch keine Maskenpflicht. Praktisch.

Also gut: Gleis 5. Treppe runter, rechtsherum, Treppe wieder hoch.
Sie drängelte sich an einem Pulk Studenten vorbei, die ihr verdutzt hinterher sahen. Als hätten sie noch nie einen Weihnachtsbaum gesehen. Tss!


Als Winifred das Gleis erreichte, musste sie erst einmal ihre Zweige sortieren. In der Hektik war alles durcheinandergeraten und es wurde schwierig das Gleichgewicht zu halten. 

Oh je! Der Bahnsteig war erschreckend leer und in der Ferne sah Winifred die Rücklichter der Regionalbahn verschwinden. 

Ach du heilige Christbaumkugel, jetzt hatte sie den Zug doch verpasst.

Erschöpft ließ sie sich auf der nächstbesten Bank nieder. 
Die ersten harzigen Tränen kullerten ihr den Baumstamm herunter. Wo sollte sie denn jetzt hin? 

Die große Bahnhofsuhr schlug fünfmal. So spät schon. Das würde ein trostloser Heiligabend werden. Noch trostloser als mutterseelenallein in der Wohnung der Studentin. Sie schlenderte lustlos und mit tiefhängenden Zweigen nach draußen. 

Auf dem Bahnhofsvorplatz entdeckte sie den griesgrämigen Weihnachtsbaumverkäufer. 

Er diskutierte gerade mit einer Frau, die ein kleines Mädchen an der Hand hielt. Weihnachtsbäume waren weit und breit keine mehr zu sehen. Winifred wurde neugierig und schlich sich langsam an die kleine Gruppe heran.

„Gute Frau, der letzte Baum hier ist für mich und meine Frau. Die macht mir die Hölle heiß, wenn ich heute Abend ohne einen Weihnachtsbaum nach Hause komme. Ich bin schließlich der beste Weihnachtsbaumverkäufer von Mainz. Da ist nichts zu machen.“

Das Mädchen weinte: „Bitte Mama, wir können doch Weihnachten nicht ohne Tannenbaum feiern. Ich habe doch so viele goldene Sterne gebastelt. Extra für den Baum. Und wo sollen wir dann die Geschenke drunter legen?“

Die Mutter nahm die Kleine in den Arm. 
„Winifred, sei nicht traurig, es wird auch ohne Baum ein wunderbares Weihnachtsfest. Wir sind einfach spät dran und es ist in der ganzen Stadt kein Weihnachtsbaum mehr zu bekommen.“
Winifred Weihnachtsbaum spitzte die Tannennadeln: Hatte sie da gerade ihren Namen gehört?
Da hieß ein Mädchen ganz genauso wie sie?
Sie hüpfte auf ihrem Holzständer noch ein bisschen näher heran.

Das war die Lösung. 
Sie schüttelte die Tränen aus Harz von sich und ging selbstbewusst auf die Gruppe zu.
„Hohoho … äh, Hallo Winifred!“ 
Das Mädchen sprang erschreckt zur Seite und sah ihrer Namensschwester direkt in die goldenen Christbaumkugeln. 

„Mama, guck mal!“ Sie zog am Ärmel der Mutter, die noch einmal einen letzten Versuch unternommen hatte, den Griesgram zum Verkauf zu bewegen. 

„Mama, jetzt guck doch mal, ein kleiner Weihnachtsbaum, der sprechen kann!“

„Winifred, Bäume können nicht sprechen. Aber hoppla, wo kommt der denn auf einmal her?“
Die Mutter schaute sich um und suchte nach einer Person, die den kleinen Baum dort hingestellt haben könnte. 
„Bitte, Mama, können wir den nicht mitnehmen? Die goldenen Sterne würden wunderschön zu den Kugeln passen. Bitte, Mama, … bitte!“ 

Winifred Weihnachtsbaum verbeugte sich einmal elegant und streckte dem Mädchen einen besonders langen Tannzweig entgegen.
„Siehst du, Mama, der will mit uns nach Hause.“ Sie nahm Winifred an die Hand und lächelte. 

Der Baumverkäufer hatte sich inzwischen den letzten Baum unter den Arm geklemmt.
„Na dann: Frohe Weihnachten, jetzt haben Sie ja ein Bäumchen und sogar schon fix und fertig geschmückt.“ 
Damit verschwand er und schien sich überhaupt nicht zu wundern, wo Winifred so plötzlich hergekommen war.
Mutter und Tochter sahen sich an, lächelten und nahmen die kleine Winifred Weihnachtsbaum in ihre Mitte. 

„Das ist wohl ein Geschenk des Himmels an uns!“

Sie machten sich gut gelaunt auf den Heimweg und summten leise „Vom Himmel hoch, da komm ich her …“ 
Winifred Weihnachtsbaum kannte das Lied und schuckelte ihre Kugeln im Takt dazu. 
Sie war überglücklich, dass sie den Heiligabend in so freundlicher Gesellschaft feiern durfte. 


Also, liebe Vanessa, wenn du nach Weihnachten zurück nach Hause kommst, wundere dich nicht, wenn von Winifred weit und breit nichts mehr zu sehen ist. 